Schwarz das Band des Flusses

Schwarz das Band des Flusses

Unsterblichkeit – Ich fühlte mich wie ein Kiesel im Geschiebe eines breiten Flusses. Wenn ich stürbe, verdorrte nur ein Zweiglein an einem mächtigen Baum, der voll im Saft stand. Wir waren unsterblich und Teil eines grossen Tieres, das immer weiterkroch übers Antlitz dieser Erde.

The Night Has A Thousand Eyes – Ein Signalhorn dröhnte in der Dunkelheit. In der Gleisbiegung erglühten die Scheinwerfer einer Diesellok. Die Fundamente der Station begannen zu beben. Mir wehte der Geruch von erhitztem Eisen entgegen. Dann erfüllte der schwere Klang von Radachsen die Luft mit dunklen Rhythmen. Eine urtümliche Nocturne hob an, voller metallener Glissandi, herumgeisternder Obertöne und dumpfem Pochen, derweil der vollgepferchte Zug durch die Station rollte. Aus den offenen vergitterten Fenstern lugten Arme heraus, einzelne Handteller ruderten im Luftstrom. Gesichter starrten mir entgegen. Ich erhaschte rot gewandete Verkäufer, die auf ihren Köpfen Tee in Chromstahlbehältern durch die Abteile balancierten. Reisende bugsierten Koffer herum, andere breiteten auf ihrer Bettstatt Decken für die Nacht aus. Diese langen und schweren Züge brauchten eine Weile, um richtig Tempo zu gewinnen, und auch dann fuhren sie nie mehr als siebzig Kilometer die Stunde. Bis Patna brauchte dieser Kurs so ganze zwei Tage. Wagen an Wagen polterte vorbei. Die metallene Schlange wollte nicht mehr enden. Bis sie endlich doch mit ihrer Myriade von Augenpaaren im Dunkel der Nacht verschwunden war. Ich hörte den Zug noch über die Weichen holpern wie ein forttreibendes Schiff, das in den Wellen rollt.

Schluckimpfung – Die Flaschen verantalteten zartes Glockengeläut. Hunde huschten unter dem Dämmerlicht der Strassenlampen vorbei. Ich schritt wie ein Schatten auf seinem Pfad. An einem kleinen Kreisverkehr mit einer beleuchteten Statue von DR AMBEDKAR bog ich in eine andere Strasse ab, da mein Hotel in entgegengesetzter Richtung lag. Im Bad mixte ich einen Wodka Tonic und kippte den Drink am offenen Fenster hinunter. Hunderudel kläfften in der Dunkelheit. Affen sprangen behende der Hotelmauer entlang. Ich musste lachen und mixte mir sogleich einen zweiten Drink, diesmal als Malaria Prophylaxe.

The Blues – Seinem Klang wohnte auf dem ganzen Erdball diese vibrierende Spannung inne und erzeugte in mir immer gleich das Gefühl von Heimat. Er stieg triumphal aus der Finsternis empor und bot all irdischer Not die Stirn. Das verheissene Paradies befand sich dort, wo wir auf ein paar zusammengenagelte Bretter hinaufsteigen konnten und die Blue Notes sogleich von selber ihr Band um die Menschen flochten.

Three Mosquitos – Farzad nahm ein dickes Buch aus dem Regal, schlug eine leere Seite auf und hielt mir einen Füllfederhalter hin. »Kannst du dich hier verewigen?« Ich schrieb eine Widmung und meinen Namen hinein. Dann blätterte ich viele Seiten zurück. Da prangte die Unterschrift von Louis Armstrong. Ich schluckte und blätterte weiter. Ich erblickte die Signatur von Duke Ellington, sie füllte fast eine halbe Seite aus. Dazu war ein Foto eingeklebt, die den Duke in Malabar Hill auf der Terrasse eines Restaurants beim Dinner zeigte, zu seinen Füssen glitzerten in der Tiefe die Lichter des Marine Drives. »Vor meiner Zeit, das war in Rezas Ära.« »Schweres Buch«, sagte ich und reichte ihm den Einband zurück. Er lächelte süffisant: »Zu spät, drin bist du! Ich hab ja gesagt: Die sollen sich auf etwas gefasst machen. Das muss begossen werden.« Die Medizinalflasche und mein Glas standen noch auf dem Klubtisch. Er schenkte mir nochmals vom THREE MOSQUITOS ein. Später, während mein Taxi den dunklen Hugel hinunterholperte, stellte der Whiskey in meinem Gaumen noch allerhand Kapriolen an.

Rave – Das JUNGLE stand in Worli auf dem Grundstück einer stillgelegten Baumwollspinnerei. Wir passierten ein bewachtes Zauntor. Nico stoppte den Jeep vor einer grossen Werkhalle. Zwei Türsteher öffneten das Wellblechtor. Stampfende Musik dröhnte uns entgegen. Wir betraten die Halle. Sie war gerammelt voll. Der Weg zum Dancefloor führte zwischen zwei Tuffsteinbecken hindurch, in denen Kois umherschwammen. Dahinter thronten zwei hohe kubische Felsen aus demselben Gestein. Die Tanzfläche befand sich dazwischen auf einer erhöhten Bühne. Hunderte tief hängende Lämpchen illuminierten sie mit gleissenden Farben. Wir kämpften uns durch den Pulk der Tanzenden hin zur langgestreckten Bar auf der anderen Seite des Dancefloors. Ich stiess gegen ein Mädchen mit flachsblonden Haaren, um die zwei Latinos herumtanzten. Harry war schon an der Bar und plauderte mit einer hübschen Chinesin. Die Preise waren astronomisch, ich hatte nicht viel Geld dabei und wollte nicht gleich meine ganze Gage verjubeln. Doch Harry drückte mir schon einen Drink in die Hand: »Nicht, dass du uns hier verdurstest.« Die Chinesin blickte zu mir und machte einen leichten Knicks. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Sinkflug – Als ich aufwachte, kurvte der Airbus im Morgengrauen über den Bodensee und hielt Kurs auf das Zürcher Oberland. Irgendwo da unten war die unheimliche Villa mit den Deutschen Doggen, rauschten die kühlen Wälder, war die Mosterei, von der in ein paar Monaten wieder der betörende Duft zerquetschter Äpfel aufsteigen würde, stand einsam vor einem waldigen Abhang der Friseursalon von Luis, dem Spanier mit dem schwarzen, geölten Haar, das über der Stirn pagenhaft geschnitten war und hinten als Zopf hinunterhing, der immer kleine Ohrringe trug und ein halb zugeknöpftes Hawaiihemd, vor dessen Salon sein oranger 70er-Jahre BMW in der Sonne blitzte, der ein komischer Vogel war, den ich nicht mochte und dessen Couchtisch in der Warteecke reichlich bestückt war mit Revolvermagazinen und Nackedeiheften, welche die süsse Illusion von Welt in diese verlorenen Hügel trugen. Auf der Höhe von Wetzikon machte der Jet einen Schwenk um beinahe hundertsiebzig Grad Richtung Nordwest, wo in dreissig Kilometern Entfernung der Flughafen lag. Im Süden zeichneten sich die Glarner Alpen ab. Die gezackten Felsen des Piz Sardona mit den Tschingelhörnern leuchteten matt in der aufgehenden Morgensonne, eine bizarre Krone auf dem Haupt der Erde. Ein heftiger Windstoss erfasste das Flugzeug, es tauchte ab und stieg gleich wieder hoch, schwankte seitlich etwas um seine Längsachse, wie ein forttreibendes Schiff, dass in den Wellen rollt.

Paris, Texas – »AS TIME GOES BY«, rief der Architekt des legendären Bades, »kennt ihr das?« Matteo spielte ein perlendes Klavierintro. Ich blies die legendäre Titelmelodie. Die Turmgestalt mit der Silbermähne neben dem Architekten hob gut gelaunt sein Glas in die Höhe. Der Architekt erhob sich, er hatte einen qualmenden Zigarillo im Mund. In den Händen hielt er zwei volle Rotweingläser. Eine grobe Leinenkutte hing an seiner hageren Gestalt herab. Zwei hübsche Mädchen neben der Silbermähne klatschten im Takt, während der Architekt linkische Pirouetten zu drehen begann. Seine Frau kam in kleinen Schrittchen auf die Tanzfläche getrippelt, nahm ihm die Gläser ab und stellte sie auf den Flügel. Sie umfassten einander und begannen zusammen zu tanzen. Weitere Paare traten zum Piano, fassten sich an den Händen und tanzten ebenfalls zum Swing-Groove mit. Hinter den übergrossen Fassadenfenstern schwebten dicke Schneeflocken herab. Nach unserem Set kam die Silbermähne zu Matteo und mir. »Ihr tönt toll, wie heisst ihr?« Als er auf meine Frage seinen Namen nannte, stockte mir der Atem. Ich hatte ihn nicht erkannt. Er war eine Zeitlang mein Jugendheld gewesen. Einen seiner Filme war ich sicher zehnmal im Kino schauen gegangen, schon nur wegen der Hauptdarstellerin. Ihr Anblick jagte mir wieder und wieder Stromstösse durch den ganzen Körper. Die acht Franken waren jedes Mal gut investiertes Geld.

Bankett – Durch die Strasse fegte ein eisiger Wind. Vor mir stiegen ein paar Raben in die Luft und flatterten mit Gekrächze auf die nahen Bäume. Vor dem Tor des Nachbarhauses lag am Strassenrand ein blauer Abfallsack, den die Tiere aufgerissen hatten. Ich blieb stehen und sah mir die Bescherung an. Ich hörte die Raben über mir im Geäst heiser schimpfen. Der ganze Kehricht lag verstreut herum. Fetzen eines zerrissenen Briefs, Silberpapier, ein langes rosa Kondom, Obstschalen, Binden und Essensreste. In den Zeitungen stand, dass jetzt wegen der Kälte und des Futtermangels massenweise Vögel verendeten. Ich konnte im hartgefrorenen Schnee kleine Pfotenabdrücke erkennen. Schon Füchse oder Dachse hatten zuvor den Abfall nach Fressbarem durchwühlt. Ich ging weiter, da ich den Zug erwischen musste, weil um sechs Soundcheck war. Als ich mich am Ende der Strasse kurz umblickte, sah ich die letzten Raben wieder von den Ästen heruntersegeln und sich zu ihren Artgenossen gesellen, die weiter den menschlichen Müll ausweideten. Schwarz gefiederte Archäologen, die auf den Spuren des Neuzeitmenschen nur die Rosinen herauspickten.

Parterre – Hinter der Bar, deren Tresen in einem gebogenen V in den Raum ragte, hing ein breiter, gerahmter Spiegel. Wir sahen unser Spiegelbild und dahinter das grosse Mauerfenster, das den Blick auf die Strasse und die ganze Welt draussen freigab. Gegenüber auf der anderen Strassenseite schwankte eine schiefe Kiefer im Wind. Ich mochte diese Bar, besonders wegen des Ausblicks aus diesem grossen Fenster. Ein Mann mit einem kleinen Hund spazierte vorbei. Ein roter Bus glitt die lange Strasse hinunter, die am Ende durch einen grossen Wald hinaus aufs Land führte. Die Strassenlampen übergossen das Asphaltband mit orangem Licht. In der Ferne sprang eine Ampel auf grün.

Every Time We Say Goodbye – Lara mochte mich nie leiden, weil sie überzeugt war, Djuna hätte sich mit mir einen Fehlgriff geleistet. Drei Jahre später begegnete ich ihr nachts im Gedränge einer Party, in einem kleinen Keller in der Altstadt unter dem Kino CAPITOL. Ich erschrak, so plötzlich meiner Feindin in die Arme zu laufen. Sie sah mich aber nur stumm an, ergriff meine Hände und gab mir einen langen Kuss auf den Mund. Ich war perplex. Ich ahnte nichts. Ich merkte nicht einmal, dass ihr rötliches Haar nicht echt war, sondern dass sie eine Perücke trug, die ihren kahlen Kopf nach der Chemo bedeckte. Sie sah wundervoll aus und der Kuss ihres weichen, kirschrot geschminkten Mundes drückte ein Friedensmal auf meinen. Jetzt hat sie keine Sorge mehr um Djuna, dachte ich. Unsere Hände lösten sich voneinander. »Ich gehe mal zur Bar«, sagte ich. Die ersten Worte zwischen uns. »Mach's gut.« »Du auch«, sagte ich. Ich bin ihr nie mehr begegnet

Dein Blick – Ich scheute das Leben und vergrub mich den ganzen Sommer über. Es war mittlerweile Herbst geworden. Durch die Strassen fegten frische Winde. Als ich eines Abends zu Fuss in die Stadt ging, fuhr sie wieder auf dem Fahrrad an mir vorbei. Sie trug einen dunklen Parka, die grosse Kapuze hatte sie hochgeklappt. Sie wandte mir im Vorbeifahren kurz ihren Blick zu. Ich drehte mich um und sah ihre Gestalt rasch in der Nacht verschwinden. Sie war mir im vorigen Sommer von einem Tag an aufgefallen, als ich sie über ihren Lenker gebeugt an mir hatte vorbeifahren sehen. Ihre langen hellbraunen Haare waren zu einem wehenden Pferdeschwanz zusammengebunden. Die anderen Male blickten wir uns ab und zu zufällig an, und manchmal huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Nur einmal habe ich sie nicht auf dem Fahrrad gesehen. Es war an einem heissen Sommernachmittag, ich schlenderte durch die Kolonnade am Casinoplatz, und sah sie schon von weitem entgegenkommen, gross und anmutig mit einem Leuchten im Gesicht. Ich stand wie unter Strom und fühlte meinen Puls in der Kehle pochen. Der Strassenlärm verebbte, als wäre der Film gerissen. Wie in Zeitlupe schwebten unsere Blicke aufeinander zu. Und die lange Sekunde nachdem wir uns schon gekreuzt hatten und einander noch immer anblickten, dehnte sich immer weiter, wie ein zum Zerreissen gespanntes Gummiband. Für den Rest des Sommers dachte ich wieder und wieder an diesen unendlichen Moment, an dieses Sirren, wie vom Klang einer ewig schwingenden Saite. JULIA'S GLANCE. Die Band mochte meinen Song für die Unbekannte sofort. Diese vergebliche Flaschenpost, die einsam übers Meer trieb, um auf immer hinterm Horizont zu verschwinden.

Bild in der Thunstrasse – Ich kam ich an einem breiten Fenster vorbei, in dem noch Licht brannte. Ich blieb stehen. Die Art Déco-Lampe auf dem Fenstersims hinter den halbgeschlossenen Lamellen war mir dort noch nie aufgefallen. Zu beiden Seiten des grossen Fensters befanden sich zwei kleinere, durch die man ungehindert Einblick hatte. Eines gab die Sicht auf ein sehr grosses Bild an der Wand frei. Immer, wenn ich nachts an diesem Haus vorbeikam, blieb ich hier stehen und warf einen kurzen Blick darauf. Es zeigte die unscharfe Schwarzweissfotografie einer Frau. Der Hintergrund war schneeweiss, ihre Gestalt beinahe schwarz. Beide Arme standen ein wenig vom Oberkörper ab, wohl weil die Frau während einer Bewegung fotografiert worden war. Sie trug ein eng tailliertes Kleid. Das grosse tropfenförmige Dékollete und ihr von einem schwarzen Bob umrahmtes Gesicht, das keine Züge trug, waren die einzigen weissen Stellen an der Gestalt. Noch nie hatte ich im Fenster Menschen gesehen und manchmal beschlich mich das Gefühl, es existiere nur in meiner Fantasie. Aber immer, wenn ich daran vorbeiging, sah ich darin ein mattes Licht brennen.

Lied der Nacht – Bei einem noch geöffneten türkischen Imbiss bog ich in eine enge Passage ab, die zwischen hohen Häusern hindurchführte. Mir kam ein Dutzend junger Frauen entgegen, die berauscht durcheinanderschnatterten. Alle hatten dick geschminkte Lippen, gepuderte Wangen und dunkel umrandete Augen. Dahinter folgte eine lose Prozession von gedrungenen Kerlen. Wahrscheinlich Bosniaken aus der Vorstadt mit muskulösen Oberarmen und abenteuerlichen, wackelnden Frisuren. Sie sangen ein Lied, das an den Wänden hinauf hallte. Es klang finster und seltsam fröhlich zugleich. Die Strophen waren eine Klammer, die den Trupp zusammenhielt, damit keiner verloren ging. Im Refrain schlitterte der Chor aus dem Takt, es klang wie Glockengeläut einer Kuhherde auf einer Alpweide in der Nacht. Ich war am Ende der kurzen Passage angelangt, das Lied entfernte sich, ein forttreibendes Schiff auf einem schwarzen Strom.

Soviel – Ich fasste Edna an der Hand und wir betraten gemeinsam das CAPITAL. Im Gang zum Dancefloor lockerte sich langsam die Berührung unserer Hände. Das Licht im Gang strahlte in violett-roten Farbtönen. Klanggirlanden hingen in der Luft, dann begann es wie in einem Bienenkorb zu brausen. Eine tiefe Basslinie wälzte sich in einem trägen Mäander voran. Plötzlich setzte die Melodie ein und brachte die Luft mit gezackten Buketts zum Beben. Der Sound war wie ein vollgesogener Schwamm, der wilde Gerüche ausschwitzte. Alles ging drunter und drüber, stob auseinander und verquirlte wieder, wurde eins und verschmolz zu einem Reigen. Am Ende des Gangs spürte ich nur mehr Ednas Fingerspitzen. Ich fühlte mich leicht wie ein Blatt im Wind. Ich ging weiter durch Schwaden von Trockeneis zur Mitte des vollen Dancefloors, wo die Musik spielte und sich alle in Trance tanzten. Alle Schatten wichen mit einem Mal fort. Lichtspots flirrten über die Köpfe hinweg und zeichneten den Menschen immer wieder neue Gesichter in ihre Antlitze. Ein Schütteln überkam mich und nahm Besitz von mir, wusste es nicht, wurde Teil eines Rituals, vom Puls ergriffen, wusste nichts, überhaupt nichts.

Terra – Auf dem Mittagsflug aus Zürich wurde es erst über Indien dunkel. Ich sah zum ersten Mal Teheran im harten Sonnenlicht. Um die Stadt breitete sich eine endlose Wüste aus. Im Norden ragte der verschneite Gipfel des Damavand sechstausend Meter in den Himmel. Der Anblick von Schnee mutete in dieser Ödnis unwirklich an. Wir überflogen die Weiten der Wüste Lut, ein Sandmeer mit bizarren Felsformationen, die sich wie einsame Riffe emportürmten und lange Schatten nach Osten warfen. Hier und da tauchten im Sand Pisten auf, die im Nirgendwo wieder endeten. Die weiten sandigen Wellenkämme der Dünen verliefen sich im dunkelgoldenen Licht. Als die Nacht hereinbrach, überflogen wir die Grenze zu Belutschistan. Ich schlürfte Wein aus einem Plastikbecher. Wenig später schwebte unter dem Jet der Hafen von Karatschi dahin, ein glitzernder Teppich, auf dem, wie auf einem Screen, bunte Pixel blinkten. Dann wurde es in der Tiefe schwarz und das Flugzeug begann den Sinkflug. Nach einer halben Stunde kamen die fahlen Lichter von Bombay in Sicht. Mir war, als schwebe der Airbus über stiller Glut, die einmal hier, einmal dort aufglimmte. Das Flugzeug drehte ab ins finstere Hinterland von Maharashtra und flog ein Dutzend Warteschleifen. Der Mond zog auf seiner Bahn um den Jet und blendete mit jeder Umdrehung hell durchs Kabinenfenster. Mein Wein im Plastikbecher funkelte jedes Mal wie Blut. Endlich nahm der Jet Kurs auf den Flughafen, überflog die schwarzen Fluten des Thane Creeks, dann das Lichtermeer der Vorstädte. Nur der Nationalpark im Norden lag in totaler Finsternis. In seinen Wäldern schlichen schon die Leoparden auf der Suche nach Beute umher und musterten aus aufmerksamen Raubtieraugen die Maschinen am Himmel und die Lichter der angrenzenden Menschensiedlungen. Wir überflogen niedrige Hütten. Ich sah durch die Fenster der Behausungen den Lichtschein von Kerosinlampen. Der Airbus donnerte im Tiefflug über den wuchernden Flughafenslum und wurde von heftigen Scherwinden geschüttelt. Ein Tempel schwankte hinweg, zuletzt schoss ein mit Stacheldraht bewehrter Zaun vorbei und schon klatschte die Maschine auf die Runway und bremste heulend ab. Auf dem Flugfeld kreuzten wir verdunkelte Maschinen. Draussen wogten Palmen in violettem Leuchtfeuerlicht. Eine Monsterfratze erschien auf der Heckflosse einer parkierten BOEING 757. »O my god!« rief jemand vor mir. Auf dem Rumpf prangte in gotischen Lettern der Name der Airline, IRON MAIDEN. Dann dockte unsere Maschine am orange erleuchteten Terminal an. Nach Passieren der Bordtüre schlug mir sogleich die feuchte und schwere Hitze entgegen. Und mit ihr der faule Geruch nach Kloake und verdorbenen Früchten.

Zodiac – Einer der Kerle lachte trocken und liess den Motor aufheulen. Die Stadt glimmte in der Ferne am Horizont wie eine schimmernde Perlenkette. Das Schlauchboot bretterte los übers schwarze Wasser. Das Leuchten am Horizont wurde immer heller. Weit entfernt pflügte ein grosser Frachter durchs Meer. Wir konnten seine weit auseinanderliegenden Positionslichter ausmachen und hörten sein Schiffshorn einen langen, monotonen Klagelaut ausstossen. Das Schlauchboot sprang über düstere Wogen. Gischt spritzte in Fetzen über den Bug. Süd-Colaba kam in Sicht, Nariman Point, das TAJ-Mahal Hotel. Die Gebäude an der Küstenlinie des Thane Creeks wuchsen langsam höher und höher in den nächtlichen Himmel.

Was bleibt – Mir war, als triebe ich auf einem Floss übers weite Meer. Beinahe alles auf der Reise war mir ein Rätsel, ein Wunder, das mich ängstigte und magisch bannte. Die Dinge wirkten geheimnisvoll wie Gegenstände in einer Landschaft im Dämmerlicht. Ich fühlte mich im ganzen Strudel wie ein Vögelchen irgendwo auf einem Ast, ein Partikel nur im Kosmos. Und es war gut. Es hielt mich über Wasser. War ein Stachel im Fleisch, ein süsser Schmerz, der mich weiter antrieb, zu tun, was ich tat. Auf der Suche nach Schönheit, die als Einziges übrig bleibt von uns, Melodien zu erfinden, wie ein Goldschmied blitzende Kleinodien fertigt, und der Welt die Stirn zu bieten. Nicht die Stimme zu verlieren und ganz im Gewirr zu verschwinden. Darauf kam es an.

(Auszüge aus meinem Roman »Schwarz das Band des Flusses«)