auf dem strom in die nacht treiben

Churchgate

Auftauchen – Eines Tages tauchte er auf und verschwand von da an nicht mehr. Auch wenn einige darauf gehofft hatten. Ich lehnte gerade gegen die Bar des Jazzklubs TURBINE in Ekakipana. Neben mir scharrte ein fanatischer Trupp von Hütern des reinen Stils beim Umtrunk mit den Füssen, als es aus heiterem Himmel über uns hereinbrach. Ich hatte den linkischen Kerl beim Betreten der Bühne nicht einmal bemerkt. Überhaupt hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen. Dabei kannte ich alle, die in den Musikzirkeln verkehrten, weil ich damals als aussichtsreichstes Talent am Schlagzeug und mit Vorschusslorberen überhäuft überall herumgereicht wurde. An dem Abend durfte jedermann auf die Bühne spazieren und mit der Hausband mittun. Zumindest, wer mithalten konnte. Wir wurden von seinen gellenden Trompetenstössen wie von Pfeilen getroffen. Die Fanatiker neben mir verschütteten ihr Bier ob seinem Furor, schnappten nach Luft oder stand ihnen vor Fassungslosigkeit der Mund offen. Mancher Ton, den dieser Wüterich hervorstiess, widersprach gegen jede Regel, tönte schief und seltsam, doch er schleuderte sie alle so voller Inbrunst aus sich heraus, dass einigen unter uns bange wurde, ob nicht auch wir vom Weg abgekommen waren. Dagegen schien ihn kaum zu kümmern, dass viele seiner Töne am Ziel vorbeischossen. Sein Strohfeuer aus scharfen Schreien mutete an wie ein Vulkan, der ungestüm Lava aus seinem Schlund hervorspie. Zuweilen war der Sturm durchsetzt von poetischen Zellen, in denen er seinem Horn geradezu zärtliche Melodien entlockte, die verführerisch umherschwebten und unsere Sinne mit überraschenden Wendungen kitzelten und die Ruhe vor dem Sturm akzentuierten. Mir schwante sogleich, dass ich bald mit ihm zu tun bekommen sollte. Nachdem er eine letzte Salve abgefeuert hatte, taumelte er von der Bühne und löste sich im Dunkel des Klubs auf. Sein Ausbruch verhallte zusehends und lediglich Fetzen seiner brennenden Tonspur hingen noch wie Pulverdampf in der Luft.

Wenige Wochen später verstellte er mir mit bübischem Charme den Weg und warb mich an. Ich war diesmal nämlich selber oben auf der Bühne der TURBINE und trieb gerade einen Haufen Wagemutiger mit Trommelattacken vor mir her, als er wieder wie aus dem Nichts auf der Bühne auftauchte. Als die Reihe an ihm war, legte ich erst recht Feuer. Er warf mir ob meiner Peitschenhiebe einen verwunderten Blick zu, doch sogleich umspielte ein schüchternes und beinahe entrücktes Lächeln seine Lippen, woraufhin er mir den Rücken zuwandte und sein Instrument zum Schäumen brachte als stünde er vor dem jüngsten Gericht. Ich wusste genau, bei wem ich anheuerte, denn das Auftauchen dieses erstaunlichen Aussenseiters hatte in den konspirativen Zirkeln der Musikszene von Ekikapana Wellen der Aufregung ausgelöst. Über den Fall wurde längst schon kontrovers getuschelt. Die einen hielten ihn für einen ungeschliffenen Scharlatan, der die Leute mit seinen zweifelhaften Künsten zum Besten hielt, andere wiederum hörten in ihm eine unergründliche Kraft dunkel gegen die Pforten poltern.

Dank seiner Unschuld gingen ihm am Ende die vielversprechensten Musiktalente von Ekakipana ins Netz. Er hievte den Fang an Land und schmiedete daraus eine Band nach seinem Gusto. Die Musikanten seiner Band kamen aus allen Ecken des Landes und sie erregte sogleich Aufsehen und weckte einigen Argwohn. Mit von der Partie bei diesem bunten Trupp herausragender Musikstudenten Ekikapanas war ein fantastischer Altsaxofonist aus den jurassischen Freibergen mit der Physiognomie eines Ziegenhirten. Sein Instrument barst fast unter dem Schwall quirliger Noten von nasalem Einschlag, die ein hysterisch gackerndes Huhn in Erinnerung riefen, das quer über den Hof gejagt wurde. Der Pianist war ein Naturbursche aus dem Rhônetal, der umringt von schwindelerregend hohen Felswänden gross geworden war. Er trug immer eine alten Segeltuchrucksack mit sich herum, in dessen Inneren wir einen würzigen Bergkäse wähnten. Seine Pianistik war elegant und knapp ohne auch nur eine Note zuviel. Am Kontrabass hatte ein Grieche mit eisernen Pfoten angeheuert, ein orthodoxer Moralapostel, der eine Zote nach der anderen riss und über die eigenen Schweinereien gleich am lautesten in ohrenbetäubendes Gelächter ausbrach. Das Tenorsaxofon blies ein mit sich hadernder Kerl aus dem Emmental, dessen Urgrosseltern sich aus der Toskana ins verworrene Hügelland ausserhalb Ekikapanas verirrt hatten. Ich selbst hatte meinen Weg aus dem Osten aus der Nähe von Sankt Gallen nach Ekikapana gefunden. Meine Jugend war nicht erfreulich verlaufen, weshalb ich bestrebt war, mein unbeständiges Glück fortan in die eigenen Hände zu bekommen.

Doch zurück zu ihm. Wie schon angedeutet, ging seinem Spiel selber jede Virtuosität ab. Ganz im Gegenteil, war er am Instrument alles andere als ein Hexer. Vielmehr brannte mir der Strahl aus seiner Trompete mit einer rohen Intensität in den Ohren. War sein urwüchsiges Gebräu schon keine Hexerei, so immerhin Magie. Schon vom ersten Trompetenstoss an glaubte ich nämlich, dass die Kunst, die er da in den Griff zu bekommen suchte, eigentlich er, der Mensch, war, und nicht sein Intrument. Doch dieser Mensch war ein flattriger Vogel, dem er immerzu hinterherhetzte und seiner doch nicht habhaft werden konnte. Seine verworrene Biografie, von der sich mir im Laufe der Zeit noch einiges offenbaren würde, blitzte mit jedem seiner stechenden Schreie auf. Jeder Ton ein Hieb. Es war alles eins. Hätte man ihn gefragt: "Willst du leben?" wäre seine Antwort gewesen: "Ja und ich spiele!" Mehr als alles andere war sein farbiges Musikantentum Soundtrack seines wahrlich wilden Treibens auf den Gassen und in den Ecken von Ekakipana, dessen ich als Zeuge mehr als genug teilhaftig werden durfte. Mit seinem Soundtrack hielt er uns nur bei der Stange, damit wir zu seinen Eskapaden mitwippten und die ganz Verwegenen unter uns dazu mittanzen und sich dabei vergessen konnten. Oh, einmal erschien er mir sogar im Traum. Er war im Dschungel und trug einen Kämpfer. Wir alle von der Band waren mit dabei und folgten ihm im Gänsemarsch auf einem schmalen Pfad hinterher. Er setzte vorneweg ab und zu auf seinem Horn ein Signal ab, worauf der ganze Trupp jäh seine Richtung änderte. Eigentlich war er ein einfacher Spielmann, der nur das Lied seines tristen Lebens sang. Seine Stimme war lediglich seiner Launen Ventil, aus dem Wut und Trauer entwich. Sie trug die Melancholie von der Einsamkeit eines von seinen Eltern in der Fremde verstossenen Kindes hinweg, die nichts mit ihm anzufangen wussten, wie auch diese phlegmatische Stadt mit dem erstaunlichen Wirken dieses Aussenseiters nicht zurande kam. Er war Sohn einer störrischen indischen Grossstadtgöre, die ihm nachtrug, ihn geboren zu haben und ihn zeitlebens dafür verdammte, und eines Vaters, ein rechtschaffener Ingenieur aus München, dem nach nichts anderem als seinem Seelenfrieden zumute war und der ihn wie einen Fremden beäugte, der ungefragt in sein Leben geplatzt war und es aus den Fugen hob. Seine Mutter und sein Vater hatten, anders als er, der keine Zuflucht hatte, beide ihre eigene Heimat, die um so gegenwärtiger war, gerade weil sie nicht in ihr lebten. Dagegen war für ihn weder auf die fremde Heimat der Mutter noch die des Vaters Verlass. Eltern und Sohn lebten in weit voneinander entfernenten Galaxien. Die Alten waren ausserstande, die Not ihres Kindes im Herzen zu ermessen. Stattdessen stiessen sie es von sich fort. Mutterseelenalleine erschuf er sich seine eigene Welt.

Deshalb ging es ihm nicht um den guten Ton, sondern darum, nicht zugrunde zu gehen. Im luftleeren Raum zwischen undurchsichtigen Sippen und Stämmen zweier verschiedener Kontinente erwies sich seine Verlorenheit als einzig sicherer Pfad. Wer sonst, wenn nicht ein Aussenseiter trug das Banner des Tagesanbruchs? Dazu kamen seine Stücke. Blitzende Kleinodien, wie von einem Goldschmied gefertigt. Sie muteten an wie der Gesang eines Vögelchens irgendwo auf einem Ast inmitten stürmischen Brausens. Mit Arabesken verzierte Dancefloor-Beats verwoben sich mit Echos aus hundert Jahren Jazz zu futuristischen Hymnen. Ich hatte nicht geahnt, dass er solche Stücke zu schaffen fähig war. "Hier meine Notizen", erklärte er an der ersten Probe unserem Trupp seine von Hand geschriebenen Notenauszüge mit schüchternem Lächeln. Schon vom ersten Stück an hatten wir seine Welt betreten, und keiner hat diesen innigen Moment je wieder vergessen. Als hätte man eine schlichte Bergkapelle aus Stampflehm aufgesucht und mit ihr einen sakralen Raum, der einen in den Bann zog. Ich hatte seinen Kreis betreten, für wunderliche Ereignissen war in Zukunft gesorgt. Seine tönenden Metropolen-Poeme waren wie ein Traum und verliehen der lethargischen Krämerseelen-Monotonie von Ekakipana Glanz, von dem die Stadt so gut wie keinen hatte. Er färbte sie schön, keineswegs weil er nicht ihre Begrenztheit erkannt hätte, sondern weil er ohne das Schöne im Leben zugrunde gegangen wäre. Er ähnelte einem Derwisch. Wären die Menschen von Ekakipana, zumal jene, die hier den Ton angaben, nicht so einfältig gewesen, sondern klarsichtig wie im Morgenland, dann hätten sie ihn erkannt und verehrt, statt ihn zu belächeln oder zu verachten, was sie sich nie erlaubt hätten, hätten sie nur einmal den Mut aufgebracht, in den Spiegel zu blicken.

Jetzt überkommt mich übrigens wieder das Gefühl, als ich ihn zum ersten Mal hörte. Ich glaubte ihn nämlich schon zu kennen, als hätte er soeben etwas nur uns beiden Bekanntes geteilt. "Ich kenne Dich, ich habe Dich spielen gehört", wie er ab und zu von sich gab. Während ich ihm zuhörte, hatte ich tief in seine Seele geblickt, das war es! Doch alle Unbill, die ihm in Ekikapana widerfahren ist, spielt keine Rolle. Weil im Leben nichts anderes als die Magie zählt. Die Magie von Musik, die aus der Stille entsteht und von Stille wieder verhüllt wird. Ja, Musik ist auf den Abschied gestimmt. Der Abschied ist ihre wahre Tonart. Seine Musik war sehnsüchtig und entrückt, zuweilen elegant und immer wieder extravagant. Sie ähnelte einer anmutigen grossen Blüte, die auf einer sumpfigen Wasseroberfläche dahintrieb.

Illusion – Der Dancefloor in der Turnhalle war Samstagnacht vor Weihnachten rappelvoll. Er näherte sich der Treppe, die zur Bar hinauf führte. Am Treppenabsatz hatte er flüchtigen Blickkontakt mit einer jungen Frau, die seitlich hinter dem Aufgang stand. Er war etwa vier Stufen hochgestiegen, als er plötzlich wie angewurzelt stehenblieb und sich nach ihr umdrehte. Die Frau blickte mit grossen Augen zu ihm empor und verzog keine Miene. Sie stand regungslos da und wirkte vor dem Getümmel der Tanzenden wie eine Statue. Sein Blick streifte einen Atemzug lang über ihr Antlitz. Sie gab noch immer kein Zeichen von sich. Da machte er auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe weiter empor, hin zur bevölkerten Bar. Vor dem Tresen schnappte ihm ein junger Kerl den Hut vom Kopf und setzte ihn sich auf. Ambrose fixierte ihn mit irritierter Miene, worauf jener sich den Hut sogleich wieder abnahm und ihn ihm wieder aufsetzte. "Du bist doch", sprach Ambrose zum Kerl, "der Bekannte von Sabina." Der andere schnitt ein verwundertes Gesicht, verneinte weder die Feststellung, noch dass er sie bejahte. "Hast alles rumerzählt!" fuhr ihn Ambrose an. Da kehrte ihm der Kerl den Rücken zu und liess ihn stehen. Wenig später kriegte Ambrose sein Bier, doch er blieb benommen am Tresen stehen. Ihr Name hallte in ihm wider. Er mochte ihr auf keinen Fall wieder begegnen. Zweifel stiegen in ihm hoch, ob jene Frau im Halbdunkel tatsächlich Sabina gewesen war. Er war ihr schon seit letzten Mai nicht mehr begegnet. Als er eine Viertelstunde später doch wieder zum Dancefloor hinabstieg, war sie verschwunden. Auch den frechen Kerl, der ihm den Hut vom Kopf stibizt hatte, sah er nirgends mehr.

Sound of Love – Einzig die aufregenden Klänge des SWING und der aufgepeitschte Schrei des BLUES retteten in jener schweren Zeit seine Seele  (...) Nachdem sie seine Welt auf den Kopf gestellt hatte, setzte ihn die Musik von Miles Davis unter Strom. Die Tage kamen und flogen dahin und der Plattenspieler in Ambrose' Zimmer drehte sich ganze Nächte lang hindurch, während er mit aufgesetzten Kopfhörern den Klängen von ALL OF YOU lauschte. So erhaben muteten sie Ambrose an, nicht von dieser Welt, genau wie einst seine sinnlose Liebe. Doch wenn er nur den Tonarm zurücksetzte, schlug Herbie Hancock wiederum die geheimnisvollen Akkorde an, bevor die gedämpfte Trompete das Stück zu den Sternen hob. Doch diese umherflirrenden Klänge entschwanden nicht aus seinen betörten Sinnen. Sie hallten unentwegt wider. Es verhielt sich mit ihnen anders als mit dem rot leuchtenden Rücklicht, das wenige Wochen zuvor auf immer in der Nacht verschwunden war, und mit ihm das Mädchen, das er so heiss geliebt hatte. Beim Wenden der Schallplatte hörte er durchs geöffnete Zimmerfenster die Blätter der hundertjährigen Linde im Hinterhof dunkel rauschen.

Der Narr – Jetzt stand er zum ersten Mal in dieser abschüssigen Häuserschlucht (sein letzter Besuch im Städtchen lag ohnehin zwanzig Jahre zurück). Die Hauseingänge zwielichtiger Pubs und Kramläden lagen im Schatten hoher, alter Gebäude. Er kam am schmucklosen Haus Nummer 17 vorbei, wo Sabina mit ihrem Freund und ihrer besten Freundin logierte. Die Gasse war menschenleer. Ambrose stieg weiter hügelaufwärts. Er kam an einem verrammelten Waffengeschäft vorbei. Dort nahm er einen abzweigenden Weg hinauf zum Schloss, das über der Stadt throhnte. Oben fand er das Schlosstor verriegelt vor. Er warf einen Blick übers Städtchen. Tief unten lag Sabinas Haus, weiter weg erspähte er das Gymnasium, auf das sie gegangen war. Sie hatte ihm in ihren langen, gemeinsamen Nächten so oft und so viel über alle möglichen Ecken und Leute des Städtchens zugeraunt.

Gemeinsam Geburtstag feiern – Es war ein klirrend kalter Tag. Sie standen einander alle im Trakt mit der Aufbahrungshalle auf den Füssen herum. Henrike, die Gattin des Verstorbenen, tupfte sich unentwegt mit einem Taschentuch ihre verweinten Augen ab (ihr Vater war Pharmazeut und hatte in den 1920er-Jahren ein Narkosemittel entwickelt und damit ein sagenhaftes Vermögen angehäuft, über das sie zeitlebens wie ein Kettenhund wachte). An ihrer Seite stand die gemeinsame zweiundzwanzigjährige Tochter und Halbtante von Ambrose. Eine Göre mit vorne kurz geschnittenen Fransen und hinten herabwallender Mähne. Sie trug einen roten Wildlederrock, der auf Kniehöhe endete und genoss sichtlich die schockierten Blicke, die sie mit ihrem Auftritt erntete (der Alte hatte sie mit beginnender Adoleszenz in ein Klosterinternat von barmherzigen Schwestern fernab des Münchener Sündenpfuhls gesteckt). Weiter lief Ambrose seinem Onkel, einem Versicherungsadvokaten mit Russenbart und Biberfellmütze über den Weg, und Hubertus, dem Bruder des Toten, ein Tierarzt aus dem Bayerischen Wald von rundlicher, bäurischer Gestalt. Es folgten einige Cousins und Kusinen von Ambrose' Vater, ferner der Mitarbeiterstab des Alten (ein Trupp wunderlicher Experten), mit dem er seit seiner Frühpensionierung hinter dem Geheimnis der grossen Cremoneser Geigenbauer her war. (...) Vier stämmige Friedhofsbeamte mit Schirmmützen und in dunklen langen Lodenmänteln schoben den massiven Sarg auf einem hohen Wagen mit grossen Rädern über den mit hartem Schnee bedeckten Pfad, der durch ein lichtes Kiefernwäldchen des Waldfriedhofs zur Grabstätte führte. Sie machten mit ihren roten Nasen auf Ambrose einen beschwippsten Eindruck. Nach der Grablegung folgte das Leichenmahl. Um nicht unnötig Geld zu verschleudern, hatte die Witwe nur den engsten Kreis dazu eingeladen. Die kleine Schar trippelte über das verschneite Gräberfeld zu einem miefigen Eckrestaurant am Rand des Friedhofs. In der feuchtwarmen Bierstube nebenan sassen aufgedunsene Gesichter hinter tönernen Krügen. Plumpe, alte Kippspechte mit unheimlichen Gesichtern vor düsteren Butzenscheiben ('Totschläger, alles Totschläger!' schoss es Ambrose in jenen Breitengraden damals immer unentwegt durch den Kopf). Das frugale Mahl bestand aus Knödeln und einem zähen Rindsbraten, dazu gab es Leichtbier oder sauren Most. (...) Der Abendzug aus München kurvte in weiten Serpentinen durchs finstere Allgäu. Josef sass Ambrose mit versteinerter Miene gegenüber. Der Abgang des Alten und das ganze Drumherum hatten sich merklich in seine Seele gefressen. Ambrose sah zum Fenster hinaus. Auf den weiten Feldern schimmerten dunkelgraue Schneeflächen. Die Eindrücke taumelten in seinem Kopf durcheinander. Der vergötzte Grossvater im Sarg, die abrupt verstummte Bach'sche Chaconne zum Geleit, der Betrug mit der Geige, der muntere Grossonkel, die unheimlichen Gesichter in der Bierstube, die empörte Witwe, die Mutlosigkeit seines Vaters Josef ('Arschloch' hatte er in äusserster Erregung hervorgestossen, doch sein Furor war wieder einmal nichts weiter als eine kurze Laune, die bereits in lähmende Erstarrung mündete), Ambrose' sich angesichts des ganzen Durcheinanders geradezu naiv unbedarft gebende Mutter Tara, die Göre in Rockerkluft und die ganze Trübsal dieser Familie. Er vermochte sich keinen Reim auf all den Mummenschanz zu machen. Ein weiterer, denkwürdiger Geburtstag mehr mit dem Alten, um den herum alle wieder wie toll einen Tanz vollführt hatten. Doch Ambrose verspürte noch nicht die Angst in sich hochkriechen. Er fühlte nur eine vorübergehende Verstörung. Noch war der Tag fern, an dem das Totschweigen in der Familie die Gespenster weckte, die Ambrose mit um sich greifenden Tentakeln beinahe erdrosseln würden. Eine kleine Station schoss am Fenster vorüber. Ein kurzer, heller Blitz in schwarzer Nacht.

Das Schweigen – Es war draussen kalt, doch sie wollte nirgendwo einkehren.
"Ich will dich deutlich hören. In den Kneipen ist's immer zu laut." Er nickte. Sie gingen auf dem Trottoir der Speicherstrasse entlang und liessen die Cafés links liegen. "Wieso hast du mir damals auf dem jüdischen Friedhof nichts gesagt?" Er blickte zu Boden. "Was hast du dir eigentlich gedacht?" Er hob seinen Blick und sah ihr in die Augen. "Du hast mich ... das Grab von Editas Vater suchen lassen!" Er zuckte mit den Schultern. "Warum hast du nicht gesagt, dass sie damals deine Geliebte war?" Er schluckte und wollte antworten. "Sag nichts!" Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wandte ihr Gesicht ab. "Ich weiss", hauchte sie. Er nahm ihre Hand, sie war ganz kalt. "Als du mir alles geschildert hattest ... von Edita und dir, hatte ich die ganze Nacht über Bauchschmerzen." Sie blieben stehen. Er gab ihr einen sachten Kuss auf die Stirn. Sie rieb ihre Hände aneinander. "Ich hab kalt." Er wandte seinen Blick zum grossen Fenster einer Bar, die sich auf der Höhe der Stelle befand, wo sie stehen geblieben waren. Sie nickte und sie betraten gemeinsam das Lokal.

Premiere – Wir schenkten einander immer wieder ein Lächeln. Hin und her, wie ein Wunder, um das wir nun wussten und ohne Worte teilten, während wir still eine steile Stiege zum Bahnhof hinauf in die Oberstadt nahmen, wo wir den Zug nach Lausanne bestiegen. Während der Interregio dem Seeufer entlang pfeilte, begann es zu dämmern. Deine schmalen Hände glitten sacht in die Ärmel meines Shirts und ich umfasste deine Ellbogen. Deine grünen Augen schillerten hell. Der See schien weit wie das Meer. Die Lichter der Städtchen am anderen Ufer warfen bunte Reflexe hinaus aufs Wasser. Statt in Lausanne direkt auf den INTERCITY nach Ekikapana umzusteigen, suchte ich gegenüber des Bahnhofs eine schmucklose Pizzeria auf. Ich hatte eine Napoli bestellt und sass draussen an einem grauen Plastiktischchen bei einem Hellen. Nebenan brauste der Verkehr auf der abschüssigen Avenue hin und her. Der Geruch von Benzin und Metall lag in der Luft. Ich fühlte mich glücklich, wie schon lange nicht mehr. Die Welt stand mir offen, und niemand war da, mir zu sagen, wie, oder wie nicht, ich sie nehmen sollte. Ein Trolleybus der Ligne 2 flitzte die Chaussee hoch. Mir stand der Mund offen. Er war mit DESERT angeschrieben. Maison du Désert, Pierrefleur 72. Wo mein erstes Konzert war mit meiner neuen Band und nur mit eigenen Stücken, die ich im Sommer zuvor geschrieben hatte. Es war Ende Dezember und überall lag meterhoch Schnee. Wir fuhren mit dem Trolleybus vom Bahnhof den ganzen Hang hinauf bis zum Stadtrand, wo die alte Ferme gelegen war. Das grosse Gehöft war L-förmig angelegt mit zwei hohen Geschossen. Glenk, ein baumlanger, dürrer Kerl in einer verschlissenen Skijacke, nahm uns enthusiastisch in Empfang und führte uns in den Konzertraum, eine riesige, dunkle Stube mit Holztäfer, wo früher die Bauern samt Familien und Hauspersonal ihre Mahlzeiten eingenommen hatten. Im Cheminée prasselte ein mächtiges Feuer. Funken flogen von der Feuerstatt weg. Die Stube war von kernigen Rauchnoten durchbeizt. An einer Wand stand ein schwarzer SCHIMMEL-Konzertflügel. Mein Pianist setzte sich sogleich auf die Klavierbank und begann selbsvergessen zu rhapsodieren: SKYLARK von Hoagy Carmichael. Ein paar junge Frauen erschienen. Eine, die sich mir mit Elodie vorstellte, begann zusammen mit den anderen Kerzen anzustecken. Der Raum begann allmählich zu erwachen und schimmerte bald in goldenen Reflexen. Mein Bassist wärmte seine eisernen Pfoten vor dem Cheminée auf. Er zupfte am Kontrabass sonore Walking Lines, die sich unter die flirrenden Pianoakkorde schmiegten. Mein Drummer baute seine Schiessbude auf. Elodie hatte einen grossen Hammer geholt und nagelte auf seine Bitte die Bassdrum am Boden fest, damit sie während dem Gig nicht davonsprang. Die beiden Saxofonisten quetschten jeder in einer Ecke aus ihren Hörnern quirlige Schlangenlinien hervor. Ich sass einfach nur gebannt auf einem Stuhl da und liess mich davontreiben wie in einem Traum. "Manger!" rief Glenk dazwischen und dirigierte uns in die enge Küche nebenan, die dichtgedrängt war mit Leuten, die inmitten von Schwaden von Küchendampf Zigaretten rauchten. Von der Decke hing eine gelbe Funzel herab. Wir setzten uns an einen groben Holztisch. Ein dampfendes Chilli con Carne wurde aufgetragen. Zum Auftunken wurden dicke Scheiben Bauernbrot gereicht. Die Stube war voll gepackt mit jungen Menschen, die im Gehöft wohnten und noch ihren Anhang angeschleppt hatten. Der Auftritt flog dahin wie ein wilder Taumel. Er wähnte sich zeitweise ausserhalb des Geschehens und lauschte verblüfft seiner Band, wie sie seine schwärmerisch-stürmischen Stücke zu schillernden Ballons aufblies. NOIR EST LA MER peitschte wie ein Sturmwind herein und beschwörte schwarz tosende und vom weissen Schnee der Gischt zerwühlte Sturzseen herauf. Im Februar war in Fribourg der Termin im Studio angesetzt, um den Sound endlich auf Tape zu bannen. Es war sein zweitletztes Konzert bevor der Ernst des Lebens begann. Das Kind war unterwegs und erfüllte ihn mit Furcht. Obwohl er erst achtundzwanzig war, jagte ihm die Erwartung des Unbekannten eine Heidenangst davor ein, seine Passion und den einzigen Fluchtpunkt im Leben auf immer zu verlieren. Aber war es nicht immer so, solange man am Leben war? Waren wir nicht auch das, was wir verloren hatten?

Auf dem Meeresgrund – Sie bebte vor Zorn. Ambrose' Herzschlag schien kurz auszusetzen. Dann fühlte er mit einem Schlag wie seine Glieder mit Leben durchströmt wurden. Er war endlich ganz tief unten auf dem Meeresgrund ihrer verworrenen Liaison angelangt und stieg jetzt endlich wie ein Pfeil zur Wasseroberfläche und zum Licht empor. Er war so lange schon ein Gefangener in diesem Abgrund gewesen und fühlte sich jetzt leicht wie eine Wasserblase, die in die Höhe schoss, um an der Luft zu zerplatzen und eins zu werden mit ihr wie der Schlussakkord eine nicht enden wollende Symphonie mit einem Mal auflöste. Eine unsagbare Musik klang ihm in den Ohren. Er nahm die Geräusche im Hof um sich herum geschärft wahr, während er wieder zu sich kam. Er begegnete ihren noch immer vor Wut funkelnden Augen mit ruhigem, beinahe hartem Blick und hob mit leiser aber fester Stimme zu sprechen an: "Willst du, dass ich dich belüge? Ich spreche jetzt mit dir als Freund, als Geliebter wäre es nicht anders, und noch nicht einmal als flüchtiger Bekannter. Oder was ich in deinen Augen auch immer bin. Aber die Lüge, die Lüge bekommst du nicht von mir, noch nicht einmal, wenn du meine ärgste Feindin wärst. Suche dir dafür jemand Anderes!" Ihre Lippen begannen zu zittern.

Am Konzert – Wenige Tage später traf ich dich zufällig im alten Kraftwerk unten am Fluss auf einem Indie-Pop-Festival. Ich war noch nie dort und völlig hin und weg von dem kleinen blonden schwedischen Mädchen vorn auf der Bühne. Ich war ganz gebannt von ihren Schreien und der düsteren, lauten Musik. Wir sassen danach zusammen mit Irina, mit der ich hingegangen war, auf den Stufen des Foyers. Es sassen noch andere junge Freundinnen von mir aus Griechenland dort beieinander: Stella, Calista, Eleni, Gizi und Kaarina. Ich stellte dich ihnen als mir bekannten Artisten vor. Sie waren ziemlich begeistert von dir. Du plaudertest mit allen drauflos. Ich war total überrascht und zugleich irritiert, als du beiläufig deine Tochter Skylar erwähntest. Sie war offenbar nur wenig jünger als wir Mädchen auf den Treppenstufen dort. Ich war verwundert, da du sie noch nie vor mir erwähnt hattest. Aber gut, ich kannte dich ja auch nur flüchtig. Meinen Freundinnen war meine Verblüffung natürlich nicht entgangen. Aber ich bewunderte deine vielen Talente und war überrascht, wie unkompliziert du als Zweiundvierzigjähriger mit meinen jungen Freundinnen umgingst. Sie waren von dir auch hin und weg. Sie schäkerten mit dir, was das Zeug hielt, obwohl sie alle in sicheren Händen waren. Aber das zählte nicht. Du warst eben ein Exot, da waren Ausnahmen erlaubt. Ich sass betrunken auf der Treppe und mir wurde mulmig zumute, während meine Freundinnen dir aus funkelnden Augen zulächelten. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Ich wollte ja nichts von dir. Da hast du rasch ganz sachte meine Schultern und meinen Nacken berührt. Ein heisser Schauer durchfuhr meinen Körper. Ich liess dich irgendwann stehen und bin mit Irina davongezogen.

Blinder Fleck – Gregor trat wieder auf den Plan. Er liess seinen Stock wie eine Sonde in Kreisbewegungen über den gefliessten Boden gleiten. Sie bestellten bei der Bartenderin noch eine letzte Runde vor der vorgezogenen Polizeistunde. Nachdem sie ausgetrunken hatten, schlug Henryk Ambrose vor, gemeinsam nachhause zu spazieren, da sie ohnehin im selben Viertel wohnten. "Wer weiss, womöglich machen sie Ernst, und es kommt noch zur Ausgangssperre." Ambrose stimmte erfreut zu. Die beiden liessen Gregor in der Obhut der Bartenderin zurück und traten mit Lolita im Schlepptau den Weg nachhause an. Draussen lag der balsamische Geruch von Frühling in der Luft. "Wir wollen der Hündin frei geben", rief Henryk, schirrte das Tier ab und liess es laufen. Dann hakte er sich bei Ambrose unter. In dem Moment ging die gläserne Bartür auf. "Wartet auf mich!" rief Gregor und tastete sich auf sie zu. Henryk knurrte. "Ich muss in eure Richtung, zum Welttelegraphendenkmal", erklärte Gregor. Er hakte sich ohne nachzufragen ebenfalls bei Ambrose unter. Dann marschierten sie los. Die beiden zerrten ihn geradezu mit sich fort. Ambrose nickte Esperanza im Vorbeigehen durch die grosse Scheibe der Bar zu. Ein Lächeln huschte über ihr grosses, schönes Gesicht. Lolita war schon vorneweg gelaufen und schupperte in einiger Entfernung an einem Mauerpfosten. Plötzlich wandte sie sich um und musterte das Trio aus der Ferne. Sie schüttelte sich kräftig und kläffte ein paar Mal. Dann wedelte sie mit dem Schwanz und lief weiter, bis sie hinter einem Arkadenbogen aus dem Blickfeld verschwand

Erste Liebe – Sie erklommen Stufe um Stufe die Treppe ins Obergeschoss des Hotels. Mattes Licht ergoss sich aus einem hohen Fenster über ihre beiden Antlitze. Sie tauchten ein in das wolkige Fluidum rundum als verschlucke sie eine Nebelbank auf einem Pfad im Gebirge. Sie lächelten einander schüchtern zu und staunten über das 70er-Jahre-Interieur des Hauses. Auf den Stufen war ein hellgrauer Spannteppich verlegt, der sich oben am Austritt in einem kurzen, dämmrigen Gang fortsetzte. Sie gaben einander einen sachten Kuss, wie um sich zu vergewissern, ob sie all dies auch wirklich erlebten. An den Wänden im Gang glimmten matte Glühbirnen und verströmten einen linden Orangestich. Das Zimmer badete ihre Silhouetten wieder in wolkiges Licht. Er schloss die schwere Tür hinter ihnen mit einem leisen Klack zu. Sie streifte ihren Mantel ab und löste ihr Haar auf. Es ergoss sich wie eine Woge über ihre Schultern. Ihre Augen schillerten in grünen Reflexen. Ihnen war, als hätten sie eine Schranke hinter sich gelassen und eine andere Sphäre betreten. Sie hielten einander umschlungen und die Zeit schien still zu stehen. Ich konnte es kaum fassen, ganz für uns allein zu sein und dazwischen nichts und niemanden. Mein Blick schweifte über die ruhige Wasserfläche des Sees draussen vor dem Fenster dahin und hinüber ans andere Ufer, wo sich ein von Fichten bestandener Höhenzug erhob, über den Nebel herabkroch. (...) Vor mir tauchte unsere dunkel gelockte, staunende Kleine auf. Sie war dir schon zweimal im Traum erschienen. Vor ein paar Tagen erst hattest du ihn mir anvertraut. Ich war betört vom Antlitz unserer Zuneigung als dem eines verträumten Mädchens. Wir lösten uns auf in Nichts. Im stillen Band zwischen dir und mir berührten wir die Wahrheit tief in uns, nach der wir so lange schon auf der Suche waren. Alle Grenzen hoben sich allmählich auf. Wir waren Reisende und zogen unsere Spur durch eine uns zuvor ungekannte Sphäre. Auf samtenen Flügeln trug uns die Liebe hinweg und machte uns unsterblich.

Mein Städtchen – Der Wald am anderen Ufer des Flusses ragte als dunkelgrüner Wall zum Himmel. Regen prasselte auf die dahinströmende Wasseroberfläche. Um diese vorgerrückte Tageszeit war hier unten weit und breit keine Menschenseele mehr unterwegs. Wer nicht von der Stadt wusste, die sich gleich hinter dieser grünen Kulisse ausbreitete, wähnte sich in einem Idyll fernab allen Trubels. Ihm war, als sei er der einzige Mensch auf der Welt, als existiere die ganze Stadt gar nicht und sei nur ein übler Scherz, eine Laune der Natur, um ihm die Sinne zu verwirren. Fledermäuse pfeilten durch die Luft. Enten schossen im Flug über den Fluss dahin. Im Uferwäldchen veranstalteten die Frösche mit ihrem Gequake einen Riesentumult. Am Ufer stakte ein Reiher umher. Plötzlich erschien auf der Bildfläche ein Kerl, der auf einem Kajak vorbeiglitt. Er nickte Ambrose stumm zu und war wenig später hinter der Biegung des Flusses wieder verschwunden. Es hatte plötzlich zu regnen aufgehört. Das Rauschen von Myriaden von Blättern im Wind hob an. und erinnerte Ambrose an eine kochende See. Er fühlte heisse Schauer durch seinen Körper wallen.

Wie ein Tier im Urwald verschwinden – Der Kahn lief in die Dünung aus. Sein spitzer Bug zerschnitt lautlos die Wasseroberfläche. Der Fischer warf den Aussenbordmotor an und steuerte die Piroge hinaus aufs Meer. Seevögel stiegen mit den Aufwinden in die Luft. Nach kurzer Fahrt befanden sie sich weit draussen auf hoher See. Das Viertel war nur mehr ein blasses Schemen am Horizont und flimmerte wie eine tropische Halluzination. Es wehte ein leichter Wind, der die Wasseroberfläche mit fauchenden Schaumzungen überzog. Der Bootsführer würgte den Motor ab. Der lange Kahn ächzte in den Wellen. Tara wand das schwarze Keramikgefäss aus einem gewachsten Leinentuch hervor, nahm den irdenen Deckel ab und hielt das Behältnis hoch. Der Priester im Boot schlug ein Glöckchen. Der Wind erfasste die darin liegende Asche. Sie schlängelte sich als zarte Säule empor und zerstob in der Luft. Taras Bruder steiss einen Seufzer aus, während sie zu einem Klagelied anhob. Der Priester ergriff die dünnwandige Tonschale auf ihrem Handteller und schlug sie gegen die Aussenwand des Kahns. Die Keramik zerspellte wie ein Ei. Die sengende Sonne, der Wind und der schaukelnde Wellengang begannen eins zu werden. Der Welt stockte der Atem. Erst als die Piroge auf dem sandigen Ufer knirschte, schreckten die Geschwister aus ihrem Dämmer auf. (...) Sie träumte von ihrem verstorbenen Gatten Josef. Und da erschien auch er vor ihren Augen. Sie sassen zu dritt auf dem Balkon des Appartments. Josef scherzte mit seinem Vater und Ambrose, während sie gemeinsam ein Abendmahl abhielten. Dazu stiessen sie mit Wein an. Das Etikett auf der Flasche auf dem Blechtischchen konnte Tara deutlich erkennen. Es war von einer pechschwarzen, aufgerollten Kobra geziert. Sie konnte den Trank deutlich in den Gläsern des heiteren Trios funkeln sehen. Doch bald verblasste die ausgelassene Runde wieder aus ihren Sinnen und wich schwarzer Nacht. Der verspielte Ruf eines Vogels weckte sie aus dem Schlaf (...) Sie betrat das Wohnzimmer und warf einen Blick zur Fensterfront hinaus und stiess einen Schrei aus. "He Bhagwan!" Ihr Bruder, der in der Küche an der Kaffeemaschine hantierte hatte, stürzte im Schlafrock herbei. "Schau, da sind noch die Spuren ihres Abendmahls!" rief sie wie von Sinnen. "Wovon redest du Schwester?" "Ich hab nicht geträumt. Sie waren wirklich da!" Er postierte sich vor der Fensterfront und nahm die Bescherung in Augenschein. Dann begann er zu lachen. "Das waren doch nur Affen, die nachts hier ein Mahl abgehalten haben." Auf dem Blechtischchen auf dem Balkon zeugten Schalen von Mangos und Bananen und ausgespuckte Kerne vom nächtlichen Gelage der Gäste. (...) In den hohen Bäumen vor dem Gebäude begann es heftig zu rascheln und schrilles Gekreisch zerschnitt die Luft. Sie erspähten Affen behende in den Ästen umherspringen. Tara hob den Blick zum Himmel. Mächtige dunkle Vögel zogen in der Höhe träge ihre Kreise, düster flackernde Flecken vor der grellen Scheibe einer ohne Gnade herab brennenden Sonne.